Donnerstag, 29. Juni
Heute starte ich erst um kurz nach halbneun, denn ich benötige Hilfe beim Ablegen. Ich liege ja immer noch an meinem gestrigen "Notliegeplatz". An der Yacht hinter mir, hatte gestern Abend noch eine Zweite im Päckchen angelegt. Das Paket ist etwa acht Meter breit. Ich muss jetzt vor Ihnen liegend rückwärts aus meinem Längsliegeplatz heraus, habe aber dabei noch die Herausforderung, dass mich der Wind zurück an den Holzsteg drückt von dem ich weg will und insgesamt ist dort wenig Platz zum manövrieren.
Dafür gibt es natürlich das passende Manöver mit dem kleinen Haken, dass ich nicht am Steuer stehen und den Gashebel bedienen kann, während ich gleichzeitig am Bug genau zum richtigen Zeitpunkt eine der Festmacherleinen vom Poller löse. Zu zweit kein großes Problem. Also bereite ich schon mal alles vor und sehe dann weiter.
Einige Fender (Def.: Ein Fender ist ein mit Luft aufgeblasener Schutzkörper (wie ein besonders stabiler Luftballon), der Beschädigungen an der Außenhaut eines Schiffes bei Hafenmanövern sowie beim Liegen an der Kaimauer oder im Päckchen - Schiff an Schiff - verhindern soll.) ... erhalten eine neue Position an der Bordwand und einer der Festmacher muss jetzt für seine neue Aufgabe anders belegt werden.
Das wäre erledigt und wie bestellt, kommt gerade ein Finne; ihm gehört die Yacht direkt hinter mir; den Steg entlang. Ich spreche ihn an und Frage, ob er mir kurz behilflich sein kann. Kann er, denn er ist, wie er mir noch erzählt, ebenfalls einhand unterwegs und hat daher vollstes Verständnis für meine missliche Situation. Hinweis für die Nichtsegler unter den Lesern. "Einhandsegeln" erfordert nicht das fehlen von Gliedmaßen, sondern ist der Fachbegriff dafür, dass eine Person alleine das Boot segelt, was hier, im Gegensatz zum Autofahren, eine große Herausforderung sein kann.
Dann geht es los. Unter Motor, denn der Wind bläst erst heute am späten Nachmittag ausreichend stark. Warum segle ich dann nicht nachmittags los? Weil ich gut 50 sm und mindestens 8 Stunden Fahrt vor mir habe und den Zielhafen möglichst früh erreichen will, weil ich Sorge habe, später keinen Liegeplatz mehr zu bekommen. Genau genommen Sorge ich mich bereits jetzt schon am Morgen, denn die Situation mit der begonnenen Segelsaison und den Ferien in Skandinavien, hatte ich ja bereits vor ein paar Tagen beschrieben.
Irgendwann am Vormittag ist für mich Frühstückszeit. Es gibt mal wieder eine Schüssel voll eisgekühlten Vanillepudding mit reichlich Müsli, während ich hier gerade etwas für die Kamera erzähle.
Andere teilen das selbe Problem - kein ausreichender Wind! Zumindest nicht für unsere Fahrtrichtung.
Auf dem Bild oben kann man erahnen, wie weit hier im Åland-Archipel die Schären oft auseinander liegen. Mehrere Kilometer Abstand sind keine Seltenheit. Die Seefläche dazwischen ist dennoch oft nicht befahrbar, weil es endlos viele Untiefen gibt und Felsen, die aus tiefem Wasser steil bis knapp unter die Wasseroberfläche ragen, aber von oben nicht sichtbar sind. Daher sind große Gebiete, trotz Seekarte, nicht (sicher) mit dem Boot befahrbar.
Ein Beispiel: Hier folgt ein Ausschnitt aus der Seekarte des Bereiches um die Insel Jurmo, von der ich gerade komme.
Während die Seekarten für andere Gebiete in Europa neben weiß (= tiefes Wasser) viele Blautöne enthalten, die je nach Helligkeitsabstufung schon mal auf den ersten Blick grob die Wassertiefe anzeigen, gibt es für Finnland (inkl. Åland) neben weiß nur zwei Blautöne oder wie hier nur ein Einheitsblau für alles, was flacher als (ich glaube) zehn Meter ist. Da teilweise Schifffahrtswege durch die blauen Gebiete gehen, muss man höllisch aufpassen, ob die jeweilige Tiefe auch für ein Segelboot mit um die zwei Meter Tiefgang ausreicht.
Einige Flachstellen habe ich mal mit roten Kreisen markiert. Unten links, die 1 mit der tiefergestellten 9 sind beispielsweise 1,9 m Tiefe, die direkt an das weiße Tiefwassergebiet angrenzt. Der Untergrund ist hier grundsätzlich aus Granitfels. Wer hier aufläuft reißt sich mit großer Wahrschinlichkeit den Kiel ab und sinkt.
Abgesehen von den gelb markierten Inseln/Schären sind alle weiteren Markierungen im blauen Bereich Unterwasserhindernisse.
Vielleicht mal nebenbei: Was ist der Unterschied zwischen einer Insel und einer Schäre? Nachzulesen in Wikipedia unter folgendem Link: Unterschied Insel und Schäre
Eine Welt, die sich mit Fotos aus der "Froschperspektive" kaum darstellen lässt. Während des Einhandsegelns auch noch die Drohne steigen zu lassen überfordert mich zugegebenermaßen. Daher müssen diese Bilder hier genügen.
Gegen Mittag wird es dann wieder unerträglich an Bord, denn die Sonne scheint nun ins gesamte Cockpit. Schatten gibt es jetzt für den Rest der Fahrt nicht mehr. Der Wind haucht von achtern (von hinten) mit etwa 7 kn während ich mit 6,3 - 6,5 kn Fahrt unterwegs bin. Beides hebt sich gegenseitig annähernd auf, so dass es am Steuerrad völlig windstill zu sein scheint, nein auch windstill ist. Vermutlich bei gut 30°C stehe ich wieder für Stunden in langer Hose und langärmeligem Hemd in der prallen Sonne. Doch heute habe ich eine Idee ...
Mit der Pütz (seemannsdeutsch für einen Eimer mit einem Seil am Henkel), die ich zu Wasser lasse schütte ich zunächst an die zehn Eimer voll ins Cockpit. Das kühlt zunächst einmal den Teakboden und hält ihn feucht. So lässt es sich barfuß besser stehen. Als das auch nicht mehr genügt, stecke ich am Steuerrad sitzend eben die Füße in den vollen Eimer - eine Wohltat, die nur anhält, wenn man alle paar Minuten das Wasser wechselt.
Noch unter Motor fahrend, komme ich diesem finnischen Segler näher, während der Wind tatsächlich auf 12 kn (4 Bft) aufbriest. Der Wind kommt aufgrund meines aktuellen Kurses von schräg hinten, also lasse ich mich animieren und versuche mein Glück. Ich setze testweise das Großsegel und drossele den Motor auf 1.500 U/min in der Hoffnung, dass ich so vielleicht mit Windunterstützung das Tempo von 6,5 kn halten kann. Doch weit gefehlt. meine Geschwindigkeit sinkt auf rund 5 kn. Das kostet mich zuviel Zeit, denn ich habe es ja eilig und will wegen des Liegeplatzes so schnell wie möglich in Hanko sein.
Nach wenigen Minuten ist klar - ich hole das Segel wieder ein und drehe die Motordrehzahl auf gut 2.000 U/min hoch. 6,5 Knoten Fahrt - das passt wieder. Kurz darauf geht der Wind aber auch wieder auf seine heutige Durchschnittsstärke von 6-7 kn zurück.
Am Nachmittag nehmen dann die Wolken wieder stark zu. Die Form der Hauptwolke erinnert mich verblüffend genau an die gestrige. Im Seewetterbericht war ganztags wolkenloser Himmel prognostiziert, wie bereits gestern.
Dieses Wolkengebilde verdichtet sich im Verlauf des Nachmittags immer mehr, was ich leider nicht fotografiert habe. Ich höre mehrfach so etwas wie ein donnerndes Geräusch. Da dann aber zufällig ein Schiff der schwedischen Marine direkt an mir vorbeifährt, schließe ich irrtümlich darauf, dass es sich wohl nur um Geräusche eines Manövers gehandelt hat, wie wir sie schon öfter auf See vernommen haben. Typisches Wunschdenken. Man weiß es eigentlich besser, nimmt dann aber doch zunächst mal die angenehmere Lösung für sich an.
Kurz vor Hanko gibt es dann keine Zweifel mehr an einem Gewitter, auch wenn ich keinen einzigen Blitz am Himmel sehe. Wie immer, packe ich alle elektronischen Navigationshilfen, die ich gerade nicht benötige und den Laptop in den Backofen. Sicher ist sicher. Doch kurz vor Hanko sind die Fahrwasser so anspruchsvoll, dass ich mich nicht mehr um' s Fotografieren kümmern kann.
Eine weitere Besonderheit der Finnen ist es, dass die sonst üblichen grünen und roten Betonnungen für Steuerbord und Backbord sehr sparsam genutzt werden. Vielmehr setzt man hier auf die vier schwarz-gelben Tonnen des Kardinalsystems. Das kann ich jetzt für die Nichtsegler nicht in wenigen Worten erklären. Nur soviel - Es gibt für die vier Himmelsrichtungen vier verschiedene schwarz-gelb Kombinationen auf den Tonnen (die umgangssprachlich gerne als Bojen bezeichnet werden). Diese geben sozusagen an, in welcher Himmelsrichtung die jeweilige Untiefe liegt. Aus der Ferne ist dann aber kaum auszumachen, auf welcher Seite man nun die Kardinal-Tonne umfahren muss, um nicht auf die Untiefe zu fahren. Bei der Rot-Grün-Betonnung fährst du (meistens) einfach zwischen rot uns grün durch - Feierabend! Das wäre zu einfach. Ich muss zugeben, dass ich hier ohne die elektronischen Seekarten, auf denen ich ja in Echtzeit genau erkennen kann, wo ich hinfahre, gescheitert wäre. Mit einer Papierkarte, alleine, bei diesem Wirrwar, für mich nicht vorstellbar.
Daher habe ich hier mal beispielhaft einen Seekartenausschnitt der letzten 5 Seemeilen der Anfahrt auf Hanko herausgesucht, wo die gesamte Betonnung der Fahrwege zu sehen ist. Ich komme über die gelbe Linie von oben in die Karte rein. Mein Hafen liegt dort, wo das rote Dreieck ist am anderen Ende dieser Linie (des aufgezeichneten Tracks) ist .
Im Revierführer wird dann noch vor der Anfahrt bei Nacht gewarnt, weil in Finnland die Kardinaltonnen meist nicht mit den üblichen Blinklichter, die in unterschiedlichem Takt leuchten, ausgestattet sind (wie vermutlich überall sonst auf der Welt).
Am frühen Abend wäre dann übrigens ausreichend Wind gewesen um nach Hanko reinzusegeln. Das ist nur etwas für die ganz Harten und die Einheimischen. Ich bin dann zumindest unter Motor und ohne auf Grund zu laufen angekommen, wobei tatsächlich die letzten Untiefen noch im Hafen lauern. Eine aufregende Fahrt!
Ein Gewitter gab es dann in Hanko am Abend nicht mehr, obwohl mich einer der Harbour-Piloten noch extra gewarnt hatte. Harbour Piloten sind junge bedienstete des Hafens, die einem im motorisierten Schlauchboot entgegenkommen, um den Einlaufenden einen geeigneten Platz für Bootsgröße und Tiefgag zuzuweisen, bzw. beim Anlegen zu helfen. Ein Toller Service, den nicht viele Häfen im Norden bieten.
Das ist mein Liegeplatz für drei Nächte, bis ich mich am Sonntag nach Helsinki auf den Weg mache.
Mehr zur Stadt Hanko gibt es im morgigen Post.
Hier ist es jetzt schon wieder kurz vor Mitternacht. Ich sage: Gute Nacht und bis morgen, wenn Ihr wollt.
Euer Harry |